„Le Club 55“ ist das berühmteste Strandlokal der Welt.
Obwohl es gar nicht in Saint-Tropez liegt. Und obwohl es abends geschlossen ist.
Sie sehen nicht aus wie typische Kellner eines teuren südfranzösischen Restaurants. Bei manchen fallen die Tattoos auf, bei anderen die Muskeln, die nicht vom Tellertragen kommen. In die Gesichter hat sich das Leben geschrieben.
Die Kellner auf diesen 50 mal 50 Metern an der Côte d’Azur sind aufmerksam, aber nicht devot, immer wieder zur Stelle, aber nicht dienstbeflissen, sympathisch, aber hemdsärmelig. Sie tragen blau-weiße Strandkleidung, sind aber nicht uniformiert: Der eine hat einen Knopf zu viel aufgeknöpft, die andere ist herb wie die Schankwirtin eines Rockerschuppens. Sie wirken seltsam vertraut miteinander, sind eher eine Bande als ein Team, eher die Besatzung eines Piratenschiffs als eines Kreuzfahrtdampfers. Sie alle hier zwischen Schilf und Bäumen und Tischen sind Typen, die einem eher kumpelhaft die Hand auf die Schulter legen als einen Stuhl zurechtzurücken. Die Gabeln richten sie nicht mit dem Geodreieck am Champagnerkühler aus.
Sie arbeiten im berühmtesten Strandlokal der Welt – und sind Teil des Erfolgs. Viele sind schon lange dabei, wie Küchenchef Laurent Bertolotto, der seit 20 Jahren im „Le Club 55“ arbeitet. Oder Bademeister Gérard Bartolo, seit 32 Jahren dabei. Zweimal nur hat er sich in der Zeit ein Autogramm geben lassen – von Clint Eastwood und von Mike Tyson. Es sind durchweg Leute, die denselben Respekt vor Millionären oder Popstars haben wie vor der Putzfrau oder dem Aushilfsgärtner – die Menschen nicht nach Vermögen oder Prominenz taxieren, auch nicht nach Trinkgeld-Potential. Wer anderswo nach dem Patron und dem besten Tisch verlangt, der ist hier plötzlich froh, überhaupt einen Platz zugewiesen zu bekommen.
Nur so kann es gehen
Für die Mitarbeiter jedenfalls sind im legendären „Le Club 55“ alle gleich – jeder, der hier sitzt und die Sonne genießt, einen Tisch reserviert hat oder auf der anderen Seite des Dünengürtels eine der hauseigenen Strandliegen gemietet hat, die nicht viel mehr sind als ein Polster mit hölzernem Aufsteller des Kopfteils für einen Tagessatz von 20 Euro.
Nur so kann es gehen, wenn seit bald 60 Jahren die Stars und Sternchen kommen, ob Brigitte Bardot oder Gunter Sachs, Roger Vadim oder Bill Gates, Mitterrand oder Bono, Gorbatschow oder Deneuve, Prinz oder Prinzessin, Scheich oder Schlagersängerin. Ob jemandem die Yacht in der Bucht gehört oder er zu Fuß kommt und sein T-Shirt den halb ausgewaschenen Schriftzug einer längst aufgelösten Band trägt: Hier regiert die Egalité.
„Patrice hat ein Händchen dafür, er sucht die Mitarbeiter danach aus“, erzählt einer der Kellner zwischen provençalischer Gemüseplatte mit Dipp und gegrilltem Pfeffersteak vom Charolais-Rind. „Nicht, weil es den Gästen so am besten gefiele, sondern weil er selbst das Ambiente so am meisten schätzt. Und weil es hier schon immer so war. Weil das diesen Laden ausmacht. Neben ein paar Dutzend anderen Dingen natürlich.“ Er lacht, während er die Skelette zweier riesiger Doraden auf großen Keramiktellern vom Nebentisch abräumt. Halb drei nachmittags, Hochbetrieb am Strand von Saint-Tropez, Action unter Sonnensegeln und Strohbespannungen gleich hinter den Dünen.
Es war das Nichts, das Paradies
Der „Cinquante-Cinq“ bleibt trotz all der Schönen und Reichen so unangepasst, weil der Chef mit Langeweile nichts anfangen kann. Und weil er mit dem von den Eltern übernommenen Laden an der Plage de Pampelonne längst so viel verdient hat, dass er sich an nichts und niemanden mehr anpassen müsste.
Patrice de Colmont, Jahrgang 1946, ist die Inkarnation dieses schönen Fleckchens Erde. Alles begann mit einem Sturm und mit einem Versehen, als er noch ein Kind war. Vater und Mutter, beide Völkerkundler und Dokumentarfilmer, drehten einen Beitrag über den Orangenhandel auf dem Mittelmeer, begleiteten Frachtschiffer, gerieten in starken Mistral und mussten für längere Zeit Station an einem fast fünf Kilometer langen einsamen Strand bei Saint-Tropez machen. Es gab keine Küstenstraße, keine Steinhäuser, erst recht keine Liegestuhlverleiher, keine Strandhändler. Sie zogen die Boote auf den Sand, zelteten erst, mieteten bald darauf einen Bootsschuppen als Behelfsquartier. Irgendwann meinte der weit gereiste Vater: „Das ist der Platz, den wir immer gesucht haben. Lasst uns einfach bleiben.“
Sie kauften mit dem Geld aus einer Erbschaft das Stück Land aus ein paar Dünen, Strandhafer, etwas Schilf und ein paar verirrten Bäumchen im Nirgendwo und bauten drei Hütten: eine als Familienküche, eine für die Eltern, eine für die beiden Söhne. Das war 1953. Strom und Wasser gab es anfangs nicht. Es war das Nichts, das Paradies. Und wenn doch mal Strandwanderer vorbei kamen oder jemand sein Boot auf den Sand zog, geriet man ins Plaudern, trank und aß zusammen. „Meine Eltern wollten die Gastfreundschaft leben, die sie hier und anderswo in der Welt selbst erfahren hatten“, erzählt Patrice de Colmont. „Das sprach sich herum.“ Auch, dass man hier intelligente Gespräche über Gott und die Welt führen konnte und am Ende das Sein alles, der Schein nichts war.
„55“, das offizielle Gründungsjahr
Sie hatten oft Besuch an dem großen Holztisch vor der Hütte, über dem sich ein Sonnensegel spannte. Immer öfter hockten sich Leute dazu, die glaubten, dies wäre ein Bistro. Einmal waren es welche vom Film, die das ganze vermeintliche Lokal für drei Wochen buchten: „Wir kommen mit 80 Leuten.“ Alle sollten verpflegt werden, jeden Tag von morgens bis abends, Beleuchter, Maskenbildner, Kameraleute. Und Regisseur Roger Vadim, der am Strand mit seiner Geliebten Brigitte Bardot in der Hauptrolle „Und immer lockt das Weib“ drehte. Das war 1955. Der Film machte Saint-Tropez zum Mythos.
Madame de Colmont hatte seinerzeit nur einen Gaskocher zur Verfügung und bereitete die Mahlzeiten für die vielen Leute deshalb im großen Ofen der Bäckerei von Saint-Tropez vor. Drei Wochen lang bemerkte niemand, dass man das Privatquartier einer Familie angemietet hatte.
Da entschloss Vater Bernard sich, die Sache zu legalisieren: Er meldete einen Betrieb für Strandgastronomie bei den Behörden an und nannte ihn „Le Club 55“ – „Club“ deshalb, weil er sich von Konventionen abgrenzen wollte, „55“ wegen des offiziellen Gründungsjahres. Und er stellte ein Schild auf, dass die damals üblichen Restaurant-Werbesprüche auf den Kopf stellte: „Hier kocht nicht der Chef, und der Gast ist auch kein König. Er ist ein Freund.“ Das merkten viele, auch die Schauspieler aus der Film-Crew, die noch lange nach dem Dreh vorbeischauten und Freunde mitbrachten.
Der Chef ist überall
Das Aussiedler-Idyll wurde zur Goldgrube – vielleicht, weil sie es eigentlich gar nicht wollten und ihnen Geld ziemlich egal war. Trotzdem ist der Club heute teuer. Der Salade Niçoise von der Vorspeisenkarte kostet 19, der Schinkenteller 18, das Omelett sogar 22 Euro. Fürs gegrillte Rinderfilet stehen 36, für die Dorade 56 Euro auf der Rechnung. Vergleichsweise günstig ist der Hauswein: die Flasche für 30 Euro. Der Eisbecher kostet 13, das Stück hausgemachter Schokoladenkuchen 14,50 Euro. Alles ist jeden Cent davon wert – selbst in der Hochsaison wie jetzt, wenn zwischen 800 und 1000 Teller am Tag die Küche von Laurent Bertolotto verlassen. An der Speisekarte hat er übrigens schon ewig nichts geändert: „Es geht nicht um meine Handschrift, sondern um die des Clubs. Und die bleibt, wie sie ist.“
Im Sommer auf Anhieb einen Tisch zu bekommen ist fast ausgeschlossen. Tagelang im voraus ist alles reserviert. Für Leute wie Bruce Willis oder Angelina Jolie, und für Menschen wie dich und mich.
Der Laden lebt auch von der erstaunlichen Präsenz des Chefs. Mit den Augen ist er überall, begrüßt jeden, übersieht niemanden. In den paar Sekunden Smalltalk ist er voll da. Er umarmt, drückt die Hand, aber Bussi-Bussi gibt es hier nicht. Wenn es die Leute an Understatement mangeln lassen, kann er auch mal schroff sein.
Bono ist sein Lieblingsgast
Das Jeanshemd hängt über der Hose, die obersten zwei Hemdknöpfe sind offen, an heißen Tagen auch mal drei. Der Mann sieht nach Sommer aus, nach Freizeit, ist gut gebräunt, und die Frisur sortiert der Wind ein paar Mal am Tag neu. Manchmal wird getuschelt, manchmal schauen sie, warum er bei den Leuten da schon drei Minuten am Tisch sitzt, warum er mit ihnen lacht, wer mag das sein? Manchmal weiß Patrice de Colmont es selbst nicht, weil es nicht wichtig ist. Hauptsache, die Gäste sind ihm sympathisch, die Wortwechsel interessant. Bei dem saudischen Prinzen, der immer wieder mit der Yacht kommt und 40 Freunde mitbringt, kann er später noch vorbeischauen.
Wer war denn schon alles hier? Patrice de Colmont verzieht den Mund ein wenig. „Es ist einfacher, wenn ich sage, wer noch nicht da war. Der Papst war noch nicht da. Falls er doch da war, habe ich ihn nicht gesehen.“ Gibt es einen Gast, den er sich wünscht? Er überlegt und nennt einen einzigen Namen: „Pierre Rabhi, den Vater der Öko-Landwirtschaft in Frankreich. Ihn bewundere ich.“ Er hat ihn eingeladen, möchte ihm gerne auch seinen eigenen Öko-Bauernhof keine fünf Kilometer weit im Hinterland zeigen, woher der Rosé-Wein auf der Karte kommt.
Kann er es sich leisten, einen Lieblingsgast zu haben? „Klar“, sagt er. „Bono. Neulich war wieder so ein Moment. Als ob ein Engel vorbeigekommen wäre, der Glücksmomente verteilt. Ein Bono-Moment. Er war mit seinen U2-Kollegen hier, und plötzlich stiegen sie auf ihren Tisch und fingen an, Musik zu machen. Ein Spontankonzert am helllichten Tag unter freiem Himmel, eine Stunde lang. Wir haben den Service so lange eingestellt, weil alle gelauscht haben – Gäste, Kellner, die Mitarbeiter aus der Küche.“
Jeden Auto-Typ der Welt mindestens einmal eingeparkt
Wenn es noch ein Geheimnis des „Le Club 55“ gibt, das keiner hier gerne hoch hängt, dann dies: Der Pampelonne-Strand, an dem der Club liegt, gehört offiziell zur Nachbargemeinde Ramatuelle, gar nicht mehr zu Saint-Tropez. Sogar die Tourismus-Werber verschweigen das lieber, denn Saint-Tropez hat den Klang, aber fast keinen Strand. Da wirft man lieber zusammen, nimmt den Sand des einen und den Mythos des anderen – und schon wird daraus der schönste Strand von Saint-Tropez, mit dem berühmtesten Strandlokal der Welt.
Könnte er den Club nicht wenigstens im Sommer auch abends öffnen? Er scheint kurz zu erschrecken. „Nein“, sagt er nur. „Das geht nicht. Das schafft keiner.“ Denn alles, was in den sieben Stunden zwischen elf und 18 Uhr so locker und leicht aussieht, ist höchste Konzentration, sonst käme es nicht so locker-leicht rüber. Es muss auch noch Zeit zum Leben bleiben. Das hier ist ein Club, ein Spaß, ein Hobby, ein Glücksfall sogar. Aber es ist nicht das wahre Leben.
Patrice de Colmont verabschiedet sich noch schnell von Parkwächter Christopher Ferreira aus Portugal, der seit 20 Jahren dabei ist und jeden Auto-Typ der Welt mindestens einmal eingeparkt hat. Dann verschwindet er hinter der Scheibe eines alten Landrover Defender, rangiert in größter Gelassenheit hinter einem Tankwagen hervor, der ihn fast blockiert hat, grüßt – und fährt in den Feierabend. Mit den beiden Border Collies Mistral und Pastis wird er in den Weinbergen spazieren gehen, um noch etwas zu haben von dem herrlichen Abend an der Côte d’Azur.
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